
Warum spielt der Mensch?
Wenn man nicht gerade zufällig den Jackpot im Lotto knackt, trägt das Spielen auf den ersten Blick wenig zu unserer Existenzerhaltung bei: ineffizient, pure Zeitverschwendung, einfach kindisch, das zumindest sagen die einen. Andere jedoch sehen im spielerischen Akt den Grundstein für zukünftig richtiges Tun, die Basis für Fortschritt, Wandel – und gute Laune. Was halten Sie von der Rolle des Spielens in unserem Leben? Spielen Sie mit und schreiben Sie es uns.

Freud oder Leid
Warum spielt der Mensch? Weil er nur im Spiel „ganz Mensch“ ist, meinte Friedrich Schiller, das heißt frei von äußeren Zwängen. Im Spiel erprobt und genießt der Mensch seine körperlichen, geistigen, kreativen und sozialen Fähigkeiten, um ihrer selbst willen, einfach aus Freude darüber, dass er sie hat. Spiel ist Selbstzweck. Trotzdem „trainiert“ man, wie zum Beispiel das intensive Spielen von Kindern zeigt, dabei natürlich ‒ quasi nebenbei ‒ auch fürs Leben. Eine Art des Spiels fügt sich allerdings nicht in dieses Muster: das Glücksspiel. Hier setzt der Mensch nicht auf seine eigenen Fähigkeiten, sondern unterwirft sich der unberechenbaren Macht des Zufalls. Im Englischen gibt es für diese unterschiedlichen Arten des Spielens sogar verschiedene Begriffe: „to play“ und „to gamble“. Das Glücksspiel hat seinen Ursprung wohl in magischen und kultischen Handlungen. Es bedient die Sehnsucht des Menschen nach Transzendenz, nach dem Eingreifen höherer Mächte. Doch die launische Fortuna ist keine gütige Gottheit. Sie schenkt niemals dauerhafte Seinsgewissheit, ihrer Gunst muss man sich ständig aufs Neue versichern. Deshalb kippt der freie, mußevolle Habitus des Spiels im Glücksspiel so leicht in sein Gegenteil: in Zwanghaftigkeit und Sucht. Das Schicksal berühmter Hazardspieler des 19. Jahrhunderts wie Fjodor Dostojewskij zeugt davon ebenso wie das namenlose Heer besessener Lotto- und Automatenspieler in unserer Zeit.

Urlaub vom Alltag
Es gibt viele Gründe, warum Menschen gerne spielen. Einer davon ist die Leichtigkeit des Spiels. Wenn ich nicht gerade um Geld zocke, wird der Alltag beim Spielen ausgeblendet und ich begebe mich in einen sorgenfreien Raum. Während mich im Alltag Fehler oft viele Jahre lang verfolgen und strafen können, darf ich im kleinen Leben eines Spiels ohne Konsequenzen für mein reales Leben Fehler machen oder auch mal Pech haben. Auch kann ich mich innerhalb der Regeln eines Spiels ausprobieren und mich ungestraft ganz anders verhalten, als ich es im normalen Leben tun würde. So wird man mir in der Regel eine kleine Gemeinheit verzeihen, denn sie bezog sich ja nur auf das Spiel. Wenn ich verliere, muss ich mich nicht grämen. Im nächsten Spiel verteilt der Zufall die Karten neu. Fehler, die ich gemacht, oder Pech, das ich gehabt hatte, sind für das nächste Spiel nicht bedeutsam. Dann heißt es: neues Spiel, neues Glück. Wer spielt, erfährt oft mehr über seine Mitspieler als nach stundenlangen Gesprächen. Masken fallen eher, wenn Menschen eine Rolle in einem Spiel annehmen. Gefühle wie Begeisterung und Ärger, aber auch Genugtuung oder Schadenfreude überwinden schneller die natürliche Zurückhaltung und tragen zu einem lebendigen, spannenden Spielerlebnis bei. Dieses Gefühl, im menschlichen Miteinander Spannung wie im realen Leben zu spüren und gleichzeitig entspannt sein zu können, ist einer der Gründe, warum ich gerne spiele.

Spaß an neuen Welten
Videospiele geben uns die Möglichkeit, etwas zu erleben, was uns auf keine andere Weise offensteht – sei es als Piratenkapitän über die Meere zu segeln oder eine Zivilisation zu Größe zu führen. Wir haben Spaß dabei, Herausforderungen zu meistern, die Spieledesigner für uns kreiert haben. Zudem kann man Spaß darin finden, über ein Spiel etwas Neues zu lernen. Über all die Jahre habe ich immer wieder Briefe von Gamern erhalten, die mir schrieben, wie sie beim Spielen von „Pirates!“ etwas über spanische Galleonen gelernt hatten, dass ihr Wissen über die sieben Weltwunder vom Spielen von „Civilization“ kommt – und dass sie so über das Spielen ganz neue Interessensgebiete für sich entdeckt hatten.

Gemeinschaften in schwierigen Zeiten
Wir alle spielen. Aus gutem Grund, denn das Spielen ist eine großartige Möglichkeit, bedeutsame Verbindungen zu unseren Mitmenschen aufzubauen. So lernen wir: Wenn Menschen sozial spielen, handeln sie vereinbarte Regeln aus, lernen, wie sie gemeinsam Probleme lösen können, und üben sich in Empathie. Wir alle haben ein angeborenes Bedürfnis nach sozialer Verbundenheit – gerade deshalb hat uns die Gesundheitskrise so hart getroffen. Vieles von dem, was zwischenmenschliche Interaktion in der Gemeinschaft ausmacht, ist in Isolation nur schwer möglich. Spielen und Lernen jedoch nehmen Sonderrollen in einer sich stetig wandelnden Pandemielage ein. Spiele sind flexibel und der Mensch ist erfindungsreich: Jedes Mal, wenn sich die Regeln für soziale Kontakte ändern, erfinden wir neue Spiele und andere kreative Wege, in unserer Gemeinschaft zu spielen. Einige davon finden mit gebührendem Abstand im realen Leben statt, andere gänzlich online. Wieder andere vermischen die analoge und die digitale Welt. Doch sie alle helfen uns, in einer schwierigen Zeit stark zu bleiben, unsere Persönlichkeiten zu zeigen und Verbundenheit zu spüren. Unsere Welt verändert sich. Das wurde selten so deutlich wie in den letzten zwei Jahren. Doch eines bleibt gleich: Spielen und Lernen, in seinen vielen Formen, bringen Menschen zu Gemeinschaften zusammen, egal wie weit sie auch voneinander entfernt sein mögen.

Spielen ist wichtig
Wer nicht spielt, kann nicht gewinnen. Etwas auszuprobieren, führt zu neuen Erkenntnissen. „Es kommt nicht nur auf die Karten an, sondern auch darauf, wie man spielt“, pflegte mein Vater zu sagen. Als Mitspieler war er gnadenlos. Gut zu spielen und dabei gegen diejenigen zu verlieren, die radikal auf das bloße Gewinnen aus sind, ist eine Einübung in die unzweifelhaft drohenden Gemeinheiten des Lebens. Im Spiel kann ich ein anderer sein und mich rausziehen aus meinem Kontext. Zur Ablenkung und Erholung, aber auch, um neue Spannkraft zu gewinnen. Ich kann ein Sieger sein, wo ich mich sonst eher als Verlierer fühle. Spielen kann dann auch gefährlich sein und führt unter Umständen zu Realitätsverlust, insbesondere wenn man es rein maschinell oder vor dem Computer macht. Ein gutes Spiel hat daher Regeln und stellt hohe Anforderungen an Kombinationsgabe, Reaktionsfähigkeit, Geschicklichkeit und Entschlusskraft. So werden die grauen Zellen gejoggt. Die Einfühlung in die Mitspieler und ihr Verhalten spielt dabei eine ebenso große Rolle wie die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten und Chancen. Spielregeln sind dazu da, das Verhalten zu kanalisieren und Ziele zu setzen. Sie bieten einen gemeinsamen Maßstab, der in Absprache mit den Mitspielern verändert werden kann. Die Diskussion um das Für und Wider solcher Veränderungen ist eine Einübung in Demokratie und fördert den Zusammenhalt in der Gesellschaft.

Ein Universum an Möglichkeiten
Games erreichen so viele Menschen wie noch nie. Weltweit spielen derzeit mehr als 2,5 Milliarden Menschen Computer und Videospiele – unabhängig von Alter, Geschlecht und Nationalität, Religion oder sexueller Orientierung. Nirgendwo sonst treffen mehr Menschen unterschiedlicher Hintergründe direkt aufeinander wie in der Welt der Computer- und Videospiele. Doch warum spielen Menschen Computer- und Videospiele? Weshalb greifen allein in Deutschland rund sechs von zehn Menschen zu Controller, Tastatur und Co., um Games zu erleben? Frauen dabei ebenso häufig wie Männer, Junge ebenso wie Alte. Weil digitale Spiele drei Dinge mitbringen, die sie von anderen Medien maßgeblich unterscheiden: das Spielerische, das Soziale und das Interaktive. Games sprechen unseren Spieltrieb an, der uns als Menschen schon immer innewohnt. Sie lassen uns miteinander Abenteuer erleben – nicht nur nebeneinander. Und sie binden die Spielenden aktiv in ihre Geschichten ein. Das Spielerische macht Games zu mehr als einem Unterhaltungsmedium. Sie sind Lehrmittel, Therapiebegleiter und Problemlöser. Games sind Treffpunkt für Freunde und Familien, Innovationstreiber, Pop- und auch Hochkultur, Spiegel der Gesellschaft sowie Tür zur digitalen Welt. Wer Computer- und Videospiele spielt, nutzt also nicht nur ein Medium, sondern betritt ein Universum an Möglichkeiten. Und spricht dabei eine Sprache, die alle Menschen verstehen.

Nimmerland auf Zeit
Warum setzt man sich an einen Tisch, schiebt Figuren, liest Karten, wirft Würfel? Vielleicht steht meine Antwort exemplarisch für viele Spiele-Enthusiaten. Denn wenn ich ein Spiel finde, dass mir gefällt, will ich es wieder und wieder spielen. Ich liebe Spiele, bei denen man besser werden kann. Ich will dann das System verstehen, verschiedene Strategien testen. Ich will gewinnen. Eigentlich genau wie beim Sport. Auf der anderen Seite liebe ich Spiele, die mich mit ihrer Atmosphäre einfangen. Mir geht es da wie mit Filmen oder Büchern. Aber im Spiel habe ich direkten Einfluss auf das Geschehen: Ich lebe dann für kurze Zeit im kreativen Feuerwerk einer anderen Person. Ein gutes Spiel ist wie eine kleine, wohlstrukturierte Welt in der großen, komplizierten. Es ist wie ein Nimmerland, in das man abtauchen kann, eine kurze Weigerung, Erwachsen zu sein. Dass sich jemand anderes diese Welt für uns ausgedacht hat, gibt mir ein starkes Gefühl von Gemeinschaft. Mindestens genauso magisch fühlt es sich an, wenn andere die Welten beleben, die meiner Fantasie entspringen. Für die Zukunft glaube ich, dass es Brettspielen genauso gehen wird wie allen Genres: Durch Digitalisierung und Globalisierung wird der Markt immer ausdifferenzierter, immer mehr Nieschen finden ihre Berechtigung durch spezialisierte Fan-Gemeinden. Wir werden Spielkonzepte, Medien und Erzählstrukturen immer weiter kombinieren. Ich freue mich auf das, was noch in uns schlummert.

So macht Lernen Spaß
Spielen beim Lernen ist auch für Erwachsene wichtig und so gibt es Edutainment als spielerische Vermittlung von Wissen. Mit Spaß fällt das Lernen nämlich leichter. Studien belegen, dass die Stimmung, die wir beim Lernen empfinden, dafür verantwortlich ist, wo die Information im Gehirn gespeichert und verarbeitet wird. Das hat erheblichen Einfluss darauf, wie wir theoretisches Wissen im Alltag nutzen können. Zum Beispiel kann man mit unter Stress Erlerntem kaum kreativ weiterarbeiten. Mit Edutainment bringt man Spaß und Freude in jede Lerngruppe, steigert die Motivation mit spielerischen Formaten und Werkzeugen und stärkt das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Vorlesung, bei Seminaren oder in Workshops.

Schule fürs Leben
Die Gründe, warum wir spielen, sind so vielfältig wie die Spiele. Das kann die Herausforderung sein, eine schwierige Aufgabe zu lösen. Der Reiz des Wettkampfs gegen andere Spieler oder gegen den Computer. Das Durchdringen eines komplexen Systems in einem Strategiespiel. Das Gemeinschaftserlebnis mit Freunden und der Familie. Die Zusammenarbeit mit anderen Spielern. Das Entspannen bei einer Runde Solitaire. Die Lust an der Bewegung. Die Möglichkeit, in neue Rollen zu schlüpfen und Dinge auszuprobieren. Das Erlernen und Erproben von Fähigkeiten wie Kommunikation, fair gewinnen und verlieren können, sich an Regeln halten. Besonders viel Spaß macht es auch, sich eigene Spiele auszudenken und diese dann auszuprobieren. Was macht Spaß und warum? Gefährlich werden kann Spielen leider auch, vor allem wenn das Leben eines Menschen zu langweilig oder zu stressig ist. Viele moderne Spiele sind immer verfügbar und erfordern keinen menschlichen Kontakt mehr. Den Gelangweilten wird ein Strom endloser Aktivität mit überwiegend positiven Erlebnissen geboten. Die Gestressten werden beruhigt – und da das Spiel so gestaltet ist, dass es ihren Kopf vollkommen auslastet, können sie sich für einige Stunden vollkommen ausklinken. Beides ist in Maßen natürlich vollkommen ok, aber man muss auf sich und andere aufpassen. Shigeru Miyamoto, vielleicht der größte Videospiel-Designer aller Zeiten, hat das auf den Punkt gebracht: „On a sunny day, play outside.“

Natürlicher Trieb
Wer einmal in einer Spielbank war, kann zwar nicht die Frage „Warum spielt der Mensch“ beantworten. Er ahnt aber, darum spielt der Mensch im Casino: Er lässt sich an einem Ort vom Charme des Spielens einfangen. Das Casino hat das Glück institutionalisiert und demokratisiert. Früher rollte die Roulettekugel nur für die Haute volée. Heute kann jeder sein Spiel machen. Nicht von ungefähr heißt es: „Faites votre jeu“ – Machen Sie Ihr Spiel. Wer auf Rot oder Schwarz setzt, will sich einfach in ein anderes Spannungsfeld hineintasten, sein Glück versuchen – und möglichst gewinnen. Gespielt wird in einer Atmosphäre, die nicht ganz so ernst ist wie das wirkliche Leben. Im Casino findet das Spiel nicht auf einem Monitor statt, sondern live, in Gesellschaft. Dabei gehörte Glücksspiel zum sozialen Alltag, lange bevor es sich als Entertainment übersetzte. Der Urahn ist der Würfel: das Mobile Gaming der Antike. Wer die Zahlen seiner gegenüberliegenden Seiten addierte, kam auf sieben. Man bekam die angsteinflößende Zahl in den Griff. Spielerisch. Heute ist manches anders: Dem Glück wird auf die Sprünge geholfen. Gefragt sind Ratgeber der Psychologie: Für sie ist Spielen menschlich wie die Neugier. Der Mensch hat einen natürlichen Spieltrieb. Da kommt die Spielbank ins Spiel: Sie nimmt diesen Trieb unter ihre Fittiche und gibt ihm einen sicheren Ort, sich zu entfalten. Aristoteles war nie im Casino. Aber er schrieb: Spiel, damit du ernst sein kannst.
Regine Nohejl, Slavistin, Albert-Ludwigs- Universität Freiburg im Breisgau