
Wer ist digital souverän?
Ihr Geschmack wird selbstständig weitergedacht, der Inhalt Ihrer Mails ausgewertet, die AGB sind zu akzeptieren und bei Fragen wenden Sie sich bitte an die Zentrale in Irland. Besteht für Internetnutzer noch ausreichend Selbstbestimmung?

Digital unsouverän
„Das Internet darf kein rechtsfreier Raum werden“ – dieser Satz ist einerseits banal und andererseits falsch. Natürlich gelten Gesetze „im Netz“ nicht weniger als im „wahren Leben“, viele Regelungen gelten sogar speziell für digitale Inhalte. Wahr ist allerdings, dass ihre Durchsetzung schwierig sein kann – etwa gegenüber Menschen in fernen Ländern. Aber ist das Recht generell in die Defensive geraten? Ganz im Gegenteil: Das Netz vergisst nichts. Wer das Netz oder auch nur ein Handy nutzt, hinterlässt Datenspuren in einer Dichte, von der Ermittler noch vor kurzem nicht zu träumen wagten. Wer in den 1990er-Jahren einen Brief schickte und keine Fingerabdrücke hinterließ, konnte relativ sicher sein, anonym zu bleiben – ein Briefkasten erfasst keine Absender. Ganz anders in der digitalen Welt: E-Mails enthalten verräterische IP-Adressen. Mobilfunk-Provider speichern HandyPositionen mit großer Genauigkeit und ermöglichen so komplette Bewegungsprofile. Suchmaschinen protokollieren Suchanfragen und damit alles, was uns über Jahre interessiert hat – ein virtuelles Abbild der Persönlichkeit. Staatliche Stellen können auf diese Daten relativ leicht zugreifen, oft brauchen sie nicht einmal eine richterliche Genehmigung. Wer digitale Medien nutzt, gibt allzu leicht seine digitale Souveränität auf. Weitere Einschränkungen sind daher nicht erforderlich – im Gegenteil sollten wir überlegen, wie wir digital wieder souveräner werden können.

Ein neues Internet ist machbar
Massenüberwachung, Wirtschaftsspionage und Cyberkriminalität setzen schon an den untersten Protokollschichten des Internets an. Im Konkurrenzkampf der politischen und wirtschaftlichen Macht hat sich ein Wettrennen ergeben, keine Schwachstellen ungenutzt zu lassen, was mehrere Grundprinzipien unserer demokratischen Verfassung außer Kraft setzt. Die Rückeroberung der Datensouveränität erfordert eine neue Art und Weise, wie Daten übermittelt und verarbeitet werden. Dank neuer Forschung ist ein sicheres Internet inzwischen technisch möglich. Es bietet: 1. durchgängige direkte Verschlüsselung von Person zu Person oder zu Personengruppen; 2. Einschränkung der Analyse sozialer Verhaltensmuster, Verbindungen und Interessen auf eine verfassungsrechtlich akzeptable Menge; 3. Authentifizierung der digitalen Identität im persönlichen Austausch oder durch gemeinsame Bekannte, nicht über Drittautoritäten; 4. dezentrale Verteilungsbäume zur effizienten pluralistischen Vernetzung von Milliarden von Menschen, als Ersatz für zentralisierte Cloud-Technologien; 5. konsistente Anwendung von standardisierter freier Software sowie eine kontinuierliche öffentliche Überprüfung des Systems durch alle hinreichend kompetenten Personen. Europa hätte nur Vorteile daran, diesen Weg zu beschreiten.

Kein sicherer Hafen
Wer eine E-Mail verschickt, muss damit rechnen, dass sie über ausländische Server geleitet wird. Wer Facebook nutzt, muss sich darüber im Klaren sein, dass seine Daten auf amerikanischen Servern abgelegt werden und auch dem Zugriff der US-Behörden und -Geheimdienste unterliegen. Zwischen der EU-Kommission und den USA besteht das datenschutzrechtliche Abkommen „Safe Harbor“, das US-Unternehmen ermöglicht, Daten von EU-Bürgern in Übereinstimmung mit europäischem Recht zu verarbeiten. Dieses Abkommen ist oft kritisiert worden, weil amerikanische Unternehmen sich damit ohne effektive Kontrolle selbst als datenschutzkonform einstufen können. Der Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof hat das Abkommen jüngst gar als ungültig qualifiziert. Das würde allerdings bedeuten, dass eine Übermittlung personenbezogener Daten in die USA unzulässig wäre. An dieser Stelle zeigt sich das Dilemma. Das Internet macht nicht an Landesgrenzen halt. Ohne eine Übermittlung von Daten in Länder außerhalb der EU würde das Internet nicht funktionieren. Man muss sich deshalb eingestehen, dass die Sicherheit unserer Daten im Internet nicht in der Weise gewährleistet ist, wie man es nach den europäischen Standards erwarten dürfte. Letztlich versagt der Schutz des EU-Rechts, sobald die Daten den EU-Raum verlassen. Es wird in Zukunft also darauf ankommen, internationale Abkommen auszuhandeln, die hier tatsächlich zu einer Verbesserung führen.

Gelassenheit im Cyberspace
Das liegt letztlich im Auge des Betrachters. Wenn ich im Internet unterwegs bin, fühle ich mich durchaus frei, zu tun und zu lassen, was ich möchte. Dass mein Gesprächspartner und ich im Zuge der Grünen-Pädophilie-Debatte nicht wagten, einen genannten Buchtitel zu googlen: nicht schlimm. Im Buchladen hätte ich ja auch nicht danach gefragt. Und ob jemand meine E-Mails liest, merke ich nun mal nicht.

Fehlerquellen erkennen
Die souveräne Nutzung digitaler Medien und des Internets setzt voraus, dass man sich mit den Risiken bewusst auseinandersetzt, aber vor allem die vorhandenen Chancen nutzt. Seit 15 Jahren unterstützen wir mit unserem Wettbewerb Studenten beim Sammeln wertvoller Erfahrung im Bereich Data-Mining. Zur Lösung einer Fragestellung aus der Praxis werden anonymisierte Daten analysiert, zum Beispiel um Retouren im Onlinehandel vorherzusagen. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse gewährleisten die Anpassungsfähigkeit in einer hochdynamischen Umgebung. Wer die Augen vor der digitalen Revolution verschließt, wird über kurz oder lang scheitern – Neckermann und Quelle sind prominente Beispiele. So gilt es im Handel, die Online- und Offline-Welt intelligent zu verbinden, um die neuen Bedürfnisse der Kunden zu bedienen. Zum Beispiel indem man einen hochgradig personalisierten Service über alle Verkaufskanäle bietet. Für die Echtzeit-Personalisierung sind Bewegungs- und Transaktionsdaten wie Klicks oder angesehene Produkte von Bedeutung. Stammdaten wie Alter oder Geschlecht sind nicht notwendig. Händler und Kunde treffen hierfür eine freiwillige Vereinbarung, Daten gegen einen individuellen Service zu tauschen. Die gesammelten Informationen werden anonymisiert und ohne Rückschluss auf die Person gespeichert. Möchte der Kunde dies nicht, kann er beim Händler widersprechen und bestimmt somit selbst im Sinne seiner digitalen Souveränität.

Überwachung im positiven Sinne
Für gesunde Menschen steht Überwachung meist für eine Einschränkung an persönlicher Freiheit. Überwachungstechnik kann aber auch Leben retten und Ängste reduzieren. In Deutschland leiden 1,4 Millionen Menschen unter einer Demenzerkrankung. Jeder Dritte ist älter als 90 Jahre. Mit zunehmender Demenz fällt den Betroffenen die Orientierung immer schwerer. Viele zeigen einen ausgeprägten Wandertrieb. Unsere Erfahrung zeigt, dass demente Menschen stets auf der Suche nach vertrauter Umgebung sind. Sie wollen zurück zum Elternhaus, zum Ehepartner, zur Arbeit oder zu den eigenen Kindern. Immer wieder kommt es dabei vor, dass Sie eine für sie sichere Umgebung unbemerkt verlassen. Besonders im Winter ist die Gefahr groß, dass Betroffene nicht ausreichend warm gekleidet sind und unterkühlt aufgefunden werden. Ausgerüstet mit einem speziellen Chip mit Sendefunktion und SIM-Karte wird den Betroffenen eine persönliche Schutzzone eingerichtet. Angehörige oder auch Mitarbeiter einer Pflegeeinrichtung erhalten eine telefonische Nachricht, sobald ein desorientierter Angehöriger oder Bewohner das Grundstück eines Hauses unbemerkt verlässt. Menschen, die nicht digital souverän sind, nutzen eine Technik zur hilfreichen Unterstützung. Es wird eine Möglichkeit geschaffen, den Erkrankten frei und selbstbestimmt zu belassen. Ohne verschlossene Türen, Medikamente oder gar Fixierungen.

Digital souverän ist jeder Nutzer ohne Internetanschluss. An der Modembuchse ende das Recht auf persönliche Selbstbestimmung. Ab dort wird ein jeder zum Spielball derer, die die Verteilerknoten, Rechenzentren und Glasfaserkabel kontrollieren.

Immer hinterher
Ich bin etwas enttäuscht, wie banal Facebook und Google meine Daten auswerten: Immer wenn ich einen neuen Liebsten bei der Bildsuche finden will, mischt mir Google den Verflossenen noch unter. Habe ich mich mit einem Thema im Netz auseinandergesetzt, bietet mir Facebook im Nachhinein Werbung dazu an; was interessiert mich Schnee von gestern? Entscheide ich mich gegen den Kauf eines Pullovers, bekomme ich keine Anzeigen für eine coole Alternative, sondern für den gleichen noch einmal. Sitzt ein Bekannter an meinem Rechner, bekomme ich seine Vorlieben angepriesen – sind doch nicht meine. Hält mich die digitale Wirtschaft für so wenig souverän?

Klick, klick, Knall
Keiner, den ich kenne. Die einen zahlen ihr Lehrgeld, wenn das Kind für 1.000 Euro Drachenfutter kauft, die anderen bekommen mitgeteilt, dass monothematische E-Mails in ihrem Namen verschickt werden und wehe den Ehemännern, die ihre Daten im Cache nicht löschen.

Der, der Whats App und FB Messenger deinstallieren kann und trotzdem im Kontakt bleibt.
Ulf Buermeyer, Richter am Landgericht Berlin